Die Ausbildung zum „Trainer-B Wildwasser“ richtet sich an ambitionierte Wildwasserfahrer, die bereits den Trainer-C erfolgreich absolviert haben und ihre Fertigkeiten und Kenntnisse vertiefen wollen. Zur Trainer-B Ausbildung der Naturfreunde (Deutschlands) gehört auch eine 10-seitige schriftliche Ausarbeitung, in der man sich einem Lehrthema widmet.
Ingo Krüger hat sich dafür mit Psychologischen Aspekten während Rettungssituationen befasst und uns seinen Text freundlicherweise zur Veröffentlichung überlassen. Für eine bessere Lesbarkeit am Bildschirm haben wir einzelne Überschriften redigiert.
1. Einleitung
In der vorliegenden Arbeit sollen die psychologischen Aspekte, die in Gruppen bei Rettungssituationen auftreten, beleuchtet werden. Dabei werden zuerst die Gruppe betreffende sozialpsychologische Theorien genannt und eingeordnet. Anschließend soll das Gruppenverhalten betrachtet werden, welches die folgende Gruppenleistung bedingt. Folgend werden die Voraussetzungen für erfolgreiche Rettungen benannt. Die Übungen zu Rettungsszenarien werden aus der Erste-Hilfe-Ausbildung kommend auf den Kajaksport übertragen. Zum Schluss werden eigene Erfahrungen, basierend auf zahlreichen Erste-Hilfe- Kursen, geschildert.
2. Allgemeine Aspekte der Gruppenpsychologie
In einer Gruppe stehen alle Mitglieder in einer unmittelbaren sozialen Beziehung zueinander. Aufgrund der begrenzten Gruppengröße sind sich alle Mitglieder der Anwesenheit aller anderen Mitglieder bewusst, weshalb soziale Interaktion zwischen allen Mitgliedern möglich ist. (vgl. Wikipedia, soziale Gruppe, unter https://de.wikipedia.org/wiki/soziale_Gruppe, abgerufen am 15.06.2019).
Generell wird zwischen formellen und informellen Gruppen unterschieden. Während formelle Gruppen nach den jeweiligen Erfordernissen und Bedürfnissen durch die Organisationsleitung gebildet werden zeichnen sich informelle Gruppen durch die gefühlsmäßige Bindung zwischen den Gruppenmitgliedern aus.
Jeder Gruppe liegt eine Gruppenidentität zugrunde. Die Mitglieder haben ein Zugehörigkeits- und Zusammengehörigkeitsgefühl, das von der Gruppe nicht zurückgewiesen wird. Sie entwickeln durch gemeinsame Inhalte, Gefühle, Rituale und Werte ein Wir-Gefühl und grenzen sich so von anderen bestehenden Gruppen ab. (vgl. Ebenda S. 3)
Innerhalb jeder Gruppe entwickeln sich durch die Interaktion der Gruppenmitglieder Normen, die solange nicht widersprochen wird, von allen akzeptiert werden. Normen können aber auch zur Erreichung des gemeinsamen Ziel bewusst etabliert werden. In jedem Fall sollten Normen vom Gruppenleiter immer wieder reflektiert und bewusst gemacht werden, um sie beurteilen und bearbeiten zu können. (vgl. Klein, Irene: „Gruppen leiten ohne Angst“ S. 32 ff.)
Innerhalb der Gruppe entwickelt sich eine Struktur, die sich durch die unterschiedlichen sozialen Rollen und Positionen (Status) hinsichtlich der Verteilung von Macht, Kompetenz, Autorität, oder anderer signifikanter Sozialressourcen darstellt. (vgl. Payer, Margarete: „Kulturen von Arbeit und Kapital“ S. 5) Sie ist außerdem durch die statischen Merkmale, wie Anzahl der Personen, Alter und Bildungshintergrund vorgegeben. (vgl. Bergmann, Gero: „Allgemeine Aspekte der Gruppenpsychologie“ S. 2)
Die Gruppenmitglieder finden im Lauf der Zeit ihre Position innerhalb der Gruppe. Diese sozialen Rollen können dabei unterschiedlich gespielt werden. Der Gruppenführer kann z.B. der Beliebteste oder der Normentreueste werden, beide Rollen sind allerdings unvereinbar, da jeder entweder führen hinsichtlich der Gruppennormen oder beliebt sein kann.
Neben dem Gruppenführer gibt es in Gruppen häufig den Opponenten, der ebenfalls Leitungsqualitäten hat und dem Gruppenführer (unter)bewusst die Position streitig macht. Die Rolle des Sündenbocks obliegt im Allgemeinen dem schwächsten Gruppenmitglied, es wird für misslungene Aktionen verantwortlich gemacht. Dazwischen gibt es beispielsweise Mitläufer, die sich am Gruppenleiter orientieren. Auch Außenseitern kann innerhalb der Gruppe eine Funktion z.B. als Berater oder Kasper zufallen. (vgl. Payer, Margarete: „Kulturen von Arbeit und Kapital“ S. 6)
Die Gruppen unterliegen einer stetigen Entwicklung durch Hinzukommen oder Wegfallen von Gruppenmitgliedern. Dabei durchlaufen Gruppen sowie einzelne Mitglieder Phasen innerhalb der Gruppe.
Am Anfang der Gruppenzugehörigkeit findet sich die Anfangsphase, in der das neue Mitglied seinen Platz in der Gruppe sucht. Im Anschluss findet sich die Orientierung- oder Machtkampfphase, in der das Mitglied sich mit anderen vergleicht und misst. Die Vertrautheitsphase ist gekennzeichnet durch ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit. An diese Phase schließt sich häufig die Differenzierungsphase an, bei der jeder seine Eigenheiten in die Gruppe einbringt und in der Folge entstehende Konflikte gelöst werden. In der Abschlussphase werden die Mitglieder an vorhergegangene Trennungen erinnert, orientieren sich neu und bereiten sich auf die Zukunft vor.
In allen Phasen kommt der Gruppenleitung jeweils die Aufgabe zu, die Mitglieder sowie die Gruppe in ihrer Entwicklung zu stärken. (vgl. Klein, Irene: „Gruppen leiten ohne Angst“ S. 16 ff.)
Die Humboldtgesellschaft nennt als typische Phasenabfolge bei der Gruppenbildung die Formierungs-, Sturm- und Drang- und Normierungsphase, sowie die Phase effektiver Leistung. (vgl. Bergmann, Gero: „Allgemeine Aspekte der Gruppenpsychologie“ S. 2)
Es müssen nicht alle Phasen in einer Gruppe durchlaufen werden und es befinden sich nicht alle Mitglieder in der gleichen Phase. (vgl. Klein, Irene: „Gruppen leiten ohne Angst“ S. 31)
Struktur und Dynamik innerhalb von Gruppen können durch Soziogramme beschrieben werden. Sie werden durch soziometrische Messung, die aufgaben- und sympathiebezogene Beziehungsstrukturen innerhalb von Gruppen aufzeigen, erfasst. (vgl. Bergmann, Gero: „Allgemeine Aspekte der Gruppenpsychologie“ S. 3)
Soziogramme werden durch individuelle Befragung der Gruppenmitglieder erstellt und können zum Beispiel bei der Auswahl von Vorgesetzten durch die Firmenleitung benutzt werden. (vgl. Payer, Margarete: „Kulturen von Arbeit und Kapital“ S. 9 ff.)
Gruppen sollten laut Payer nicht mehr als 12 Mitglieder haben, da sonst die Gefahr groß ist, dass Einzelne sich nicht äußern bzw. zu Wort kommen.
3. Gruppenverhalten und Leistung einer Gruppe
Individuen verhalten sich innerhalb einer Gruppe, angetrieben vom Bedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit und vom Bedürfnis nach Sicherheit, unterschiedlich. Dabei kann aufgrund von Gruppennormen, um anerkannt und für die Gruppe bedeutungsvoll zu sein ein Verhalten praktiziert werden, welches die jeweiligen Mitglieder ansonsten ablehnen würden. (vgl. Klein, Irene: „Gruppen leiten ohne Angst“ S. 13 ff.)
Dies passiert unter anderem, da ein Verhalten des Einzelnen entgegen der Gruppennorm mit Sanktionen geahndet werden kann.
Gruppenverhalten kann gutes Problemlösungsverhalten hemmen. Dies entsteht durch folgende in der Sozialpsychologie beschriebene Prozesse:
- Illoyalität: Versäumnis wichtige Informationen zu teilen
- Gruppendenken: hierbei passt jeder einzelne seine Meinung an die erwartete Gruppenmeinung an; in seiner extremen Ausprägung unterwirft der Einzelne sein Denken dem der Gruppe, so dass kritisches Denken, welches von Immanuel Kant folgendermaßen definiert wurde:“ Wage es deinen eigenen Verstand zu gebrauchen“, unmöglich wird; dies passiert vor allem, wenn sich eine Gruppe einem charismatischen Führer anschließt
- Polarisierung: In einer Gruppe ist man entweder mehr geneigt Sicherheitsbedenken aufzugeben oder vorsichtiger zu sein, als man es eigentlich als notwendig erachten würde
- Soziales Faulenzen: die Tendenz, dass die Leistung des Einzelnen bei Routineaufgaben sinkt und bei komplexen Aufgaben steigt, da eine Leistungskontrolle nicht möglich ist
- Soziale Erleichterung: die Tendenz, dass die Leistung des Einzelnen bei komplexen Aufgaben sinkt und bei einfachen Aufgaben steigt, da eine Leistungsbeurteilung möglich ist
- Deindividuation: hierbei kommt es zu vermehrtem impulsiven Handeln des Einzelnen, das von der gesellschaftlichen Norm abweicht, durch Lockern der normalen Verhaltenseinschränkungen, da er in der Menge untergeht
Durch die genannten Motivationsverluste der einzelnen Gruppenmitglieder kann es zu einer wesentlich geringeren als der zu erwartenden Gruppenleistung kommen. Zu den genannten Verlusten können sich Fertigkeitsverluste gesellen, wenn sich die Gruppenmitglieder gegenseitig in ihrer Kreativität einschränken, da sie sich in Lösungswegen festfahren.
Neben den genannten Faktoren können Koordinationsverluste bei der Kombination der Einzelleistungen zu einer geringeren Gruppenleistung führen. (vgl. Blog Chaoswiesel, motiviert studiert: „5 Gründe, warum die Gruppenarbeit an der Uni scheitert“ S. 4 ff)
Auf der anderen Seite kann die Gruppenleistung auch größer als erwartet ausfallen. Hierfür sind die folgenden sozialpsychologischen Prozesse verantwortlich:
- Köhlereffekt: schwächere Gruppenmitglieder strengen sich vermehrt an, um nicht für eine schlechte Gruppenleistung verantwortlich zu sein
- Sozialer Wettbewerb: Gruppenmitglieder steigern ihre Anstrengung, um andere Gruppenmitglieder zu übertreffen
- Soziale Kompensation: stärkere Gruppenmitglieder strengen sich vermehrt an, um die Leistungsdefizite der schwächeren Gruppenmitglieder zu kompensieren.
Zusätzlich zu den genannten Motivationsgewinnen können Fertigkeitsgewinne durch Verknüpfen von Wissen und Können zu besseren Gruppenleistungen führen. (vgl. Ebenda S. 7 ff)
Außerdem geht es darum sich in der Gruppe gut zu verstehen und somit produktiv zusammen arbeiten zu können. Dieses gute Verständnis sollte aber nicht zu einer Vernachlässigung der Aufgabe führen. (vgl. Ebenda, S. 6)
4. Voraussetzungen für eine erfolgreiche Rettung
Grundsätzliche Unterschiede werden sich gerade im Rahmen von Rettungsszenarien durch die Gruppenzusammensetzung ergeben. Es kommt hierbei darauf an, ob sich die Gruppenmitglieder auf freiwilliger Basis einer Gruppe angeschlossen haben, oder ob es sich um eine extra für die Situation zusammengestellte Gruppe handelt.
Im Fall der speziell für eine Rettung zusammengestellten Gruppe kommt jedem Gruppenmitglied eine Funktion zu, die es zu erfüllen hat. Die Einteilung der Gruppe erfolgt durch den Gruppenführer oder auch den Leitstellendisponenten (bei professioneller Rettung durch Feuerwehr und Rettungsdienst). Jedes Gruppenmitglied ist für seine Aufgabe trainiert (z.B. Atemgeräteträger bei der Feuerwehr oder Notarztwagenfahrer im Rettungsdienst). Ebenso ist die Interaktion der Gruppenmitglieder und die damit verbundene Verknüpfung der Aufgaben trainiert worden. Die Aufgabenerfüllung in der Realsituation wird vom Gruppenleiter koordiniert.
Der Kommunikation mit den Gruppenmitgliedern kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Sie erfolgt durch einstudierte kurze und gut verständliche Anweisungen. So können lange Erklärungen und Höflichkeitsfloskeln vermieden und es muss vom Adressaten nicht nach Relevanz für die Situation gefiltert werden. Dies kommt einem flüssigen, reibungslosen und damit schnellen Ablauf zugute. Eine besondere Wichtigkeit erfährt hier eine wertfreie und zielgerichtete Kommunikation zu, damit die kurzen, lauten Anweisungen kein Gruppenmitglied persönlich angreifen.
Durch die Spezialisierung der einzelnen Gruppenmitglieder weiß jedes Mitglied, wie im Fall der Rettung zu handeln und was seine jeweilige Aufgabe ist. So werden Kompetenzgerangel und Koordinationsverluste minimiert. Zusätzlich wird jeder hinsichtlich seiner speziellen (in der Ausbildung erworbenen Fertigkeiten) eingesetzt, wodurch es zu Fertigkeitsgewinnen im Gegensatz zu einer zufälligen Aufgabenverteilung kommt. Dabei ist es wichtig die Expertise der anderen Gruppenmitglieder zu achten und gegebenenfalls in die eigene Handlung gedanklich einzuplanen. Anderenfalls kommt es doch wieder zu unkoordiniertem Handeln, das zu deutlich schlechteren Rettungszeiten und Ergebnissen führt.
Neben der Ausbildung auf die speziellen Fertigkeiten kommt der Vorbereitung auf die wirkliche Rettungssituation eine herausragende Bedeutung zu. Während das Training der Fertigkeiten zum Teil auch isoliert stattfindet, geht es beim Vorbereiten auf die Rettung zusätzlich um die Vernetzung aller Fertigkeiten und die Stressbewältigung. Nur durch möglichst realitätsnahe Übungen, die die Retter an ihre Grenze bringen, werden eine reibungslose Interaktion und ein flüssiger Ablauf der Rettung etabliert. Außerdem müssen diese Rettungsszenarien immer wieder trainiert werden, um Abläufe und Handlungen zu festigen und so Automatismen zu entwickeln.
Dies wird durch eine Videoanalyse und Nachbesprechung der Situation erreicht. So können Fehler der Einzelnen und Probleme in der Kommunikation und Interaktion erkannt und vor der nächsten Realsituation verbessert werden. Diese Reflexion der Rettungsszenarien erfolgt vorzugsweise durch einen unbeteiligten Beobachter. So wird eine subjektive Betrachtungsweise der Vorgänge minimiert und die Chance, dass die Beteiligten gerecht beurteilt werden, steigt.
Bei der Betrachtung der Vorgehensweise des professionellen Rettungsdienstes ist die persönliche Ebene bisher noch nicht betrachtet worden. Sie spielt aber, wie Kapitel drei zu entnehmen ist, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Gerade in der Interaktion können so, durch Illoyalität sowie absichtliche Minderleistung, große Effektivitätsverluste auftreten. Ein besonderes Augenmerk sollte hier dem Gruppenführer, seinem Führungsstil und seiner Personalwahl gelten. Hier werden die Weichen für zweckdienliches Handeln und kommunizieren sowie eine sinnvolle Personalaufteilung gestellt. Ein weiteres Augenmerk sollte der direkten Zusammenarbeit mit Kollegen gelten. So kann beispielsweise die Zusammenarbeit mit einem unbeliebten Kollegen torpediert werden, um dessen Handeln zu vereiteln und ihn dadurch zu diskreditieren.
Eine besondere Rolle spielen hier die Persönlichkeiten der Akteure. So werden beispielsweise sogenannte Alpha-Tiere eher um ihre Stellung in der Gruppe konkurrieren als Menschen unterschiedlichen Macht- und Positionsanspruchs. Im Besonderen ist hier auf die Hierarchie und deren Wahrung in der Gruppe zu achten.
Kajakgruppen sind außer im Rahmen von Kursen informelle Gruppen, die sich aufgrund ihres Sports zusammen gefunden haben. Damit man gemeinsam Ausfahrten, Touren oder ähnliches unternimmt, gehört auf jedem Fall ein gewisses Maß an Zuneigung dazu.
Um im Notfall schnell handlungsfähig zu sein kann es hilfreich sein, im Vorfeld Kompetenzen abzuklären und Aufgaben für den Ernstfall zu verteilen. Dabei ist darauf zu achten, dass diese Aufteilung nicht zu starr ist und womöglich dadurch hinderlich wird. Außerdem sollte nicht alles auf Einzelne abgestimmt sein, die im Ernstfall selber betroffen sein und ausfallen könnten.
Die Kommunikation zwischen den Gruppenmitgliedern spielt eine weitere wichtige Rolle. Aufgrund der Wassergeräusche und größerer Entfernungen läuft sie gegebenenfalls über Zeichen. Diese sollten allen Gruppenmitgliedern klar sein und unmissverständlich ausgeführt werden. So wird auch verständlich, dass wenige klare Worte in wichtigen Situationen nicht unfreundlich gemeint sind.
Nicht zuletzt gilt es eine möglichst ehrliche Selbsteinschätzung der Gruppenmitglieder hinsichtlich ihrer Charakteristika zu bekommen. So kann man eine Einschätzung treffen, wer in Gefahren- oder Stresssituationen wie reagiert und kommuniziert. Hierbei kann der im Anhang befindliche Bogen eine Hilfe sein.
5. Welche Rahmenbedingungen führen beim Üben von Rettungsszenarien zu guten Lernergebnissen?
Wie auch in der professionellen Rettung gilt es Rettungsszenarien möglichst realitätsnah zu trainieren. Dazu bedarf es einer Risikoanalyse und Bewertung im Vorfeld. Nur so kann man sich bewusst machen, welche Fälle mit welcher Wahrscheinlichkeit eintreten können. Hier spielt die Erfahrung, die Sozialisation und die Risikobereitschaft der Gruppenmitglieder eine wichtige Rolle. Unerfahrene Gruppenmitglieder sind sich einer Gefahr möglicherweise nicht bewusst, die dem Erfahrenen förmlich entgegenschreit.
Die Risikobereitschaft des Einzelnen sowie die Herangehensweise an erkannte Risiken sind auch durch vorangegangene Erlebnisse und Mentoren bedingt. Aus diesem Grund wird man unterschiedliche Bewertungen einer Situation erhalten. In der Gruppe gilt es dem Sicherheitsbedürfnis jedes Gruppenmitgliedes Rechnung zu tragen. Es kann der Fall eintreten, dass für die verschiedenen Gruppenmitglieder unterschiedliche Szenarien Sinn ergeben, da sie sich unterschiedlichen Herausforderungen stellen und somit anderen Gefahren gegenüber stehen.
Je heterogener die Gruppe hinsichtlich Erfahrung und Risikobereitschaft aufgebaut ist, desto schwieriger wird es für die ganze Gruppe ein geeignetes Szenario auszuwählen.
Die jeweils Übenden sollten durch die inszenierten Situationen gefordert, aber nicht überfordert werden, damit sie dir Komfortzone verlassen und die Lernzone erreichen. Sobald eine Überforderung vorliegt, verlässt der Übende die Lernzone und betritt die Panikzone, in der kein Lernen mehr möglich ist. (vgl. Abenteuerschule Ahrntal, Lernzonenmodell)
Durch eine an die Rettungsübung anschließende Reflexion werden die eigenen Handlungen bewusst gemacht und das Verhalten aufgezeigt. So können Erkenntnisse für die Zukunft gewonnen werden. Des Weiteren ist es möglich den Rettern ein Feedback zu geben und ihnen Werkzeuge für zukünftige ähnliche Situationen an die Hand zu geben.
Nicht zuletzt geht es darum bei einer gestellten Übung die Teilnehmenden gedanklich an den Ernstfall heranzuführen und so Stress zu erzeugen. So kann einer realen Rettungssituation nach Reflexion der Übung mit neuen Erkenntnissen und weniger Stress begegnet werden.
6. Eigene Beobachtungen & Erfahrungen aus Outdoor-Erste-Hilfe Kursen
Aufgrund meiner Erfahrung in der Leitung von Erste-Hilfe-Outdoor-Kursen (im Folgenden EHO-Kurse) bei der Outdoorschule Süd e. V., in denen die realistische Unfalldarstellung als besondere Lehrmethode eine zentrale Stellung einnimmt, kann ich auf langjährige Erfahrung in der Erarbeitung und Reflexion von Rettungsszenarien zurückgreifen.
Die angebotenen EHO-Kurse sind im Normalfall zwischen 20 und 40 Unterrichtseinheiten lang und spielen sich überwiegend im Freien ab. Die Teilnehmer sind entweder Menschen, die selber ein großes Interesse an ausführlichen EHO-Kursen haben, da sie z.B. eine größere Reise antreten wollen oder Mitarbeiter einer im Freien arbeitenden Firma sind (z.B. Erlebnispädagogischer Anbieter, Waldkindergarten, Nationalpark,…), die aus betrieblichen Gründen die Fortbildung besuchen.
Das zu Beginn der Kurse aufgezeichnete Notfallszenario mit zu erarbeitetem Notfallmanagement entscheidet durch die Adressatengerechtigkeit über den Erfolg in der Mitarbeit der Lehrgangsteilnehmer. Hier gilt es für Waldarbeiter ein anderes Szenario aufzuzeichnen als für Waldkindergärtnerinnen. Nur so arbeiten die Teilnehmer engagiert und interessiert an der Lösung mit und können sich in die Lage hineinversetzen. Unterschiedlicher Erfahrungsschatz entscheidet hier oftmals über Handlungsfähigkeit und Ideen zu Lösungsvorschlägen.
Teilnehmer, die durch das skizzierte Szenario unterfordert sind, neigen dazu, aus Langeweile nicht konzentriert mitzuarbeiten wohingegen überforderte Teilnehmer beispielsweise durch die Komplexität blockiert werden.
Schon bei der theoretischen Bearbeitung des Notfallszenarios zeichnen sich Unterschiede zwischen den Teilnehmern ab. Diese ziehen sich häufig durch den Kurs mit seinen Theorie- und Praxisinhalten. So melden sich einige sofort zu Wort wohingegen andere sich schwer tun ihre Ideen zu äußern.
Genau so unterschiedlich wie bei der Mitarbeit im Kurs stellen sich die Teilnehmer als Retter in den Rettungsszenarien der realistischen Unfalldarstellung dar. Die verschiedenen Rollen in der Rettung passen interindividuell unterschiedlich gut. Dem Einen liegt die Rolle des Kontakters mehr wohingegen der Andere eher zur Rolle des Koordinators neigt.
Während manche direkt ins Handeln kommen sind andere durch die Darstellung entsetzt und dadurch gehemmt. Je nach Charakter der Teilnehmer passiert es dann in den Szenarien, dass die Beteiligten aneinander vorbei agieren oder zusammen blockiert nebeneinander stehen.
Gerade wenn mehrere Retter die Situation kontrollieren wollen und sich nicht einigen können, entstehen brisante Situationen.
Vor allem in solchen Fällen gilt es durch eine gute Reflexion allen Beteiligten gerecht zu werden und so möglichst viele Erkenntnisse für die nächste Situation zu erarbeiten. Gerade in dieser Reflexion liegt der Schlüssel zum Erfolg. Mit ihr kann man Wichtiges unterstreichen und Nebensächliches, das sich in den Vordergrund gedrängt hat, wieder relativieren.
Durch die gemeinsame Besprechung der gelaufenen Rettungsaktion ist es möglich, entstandene Konflikte zu beseitigen und das Bewusstsein wieder der Situation zuzuwenden. Während der Reflexion kann die Anspannung verarbeitet und auf ein gesundes Maß reduziert werden. In dieser Situation können sich die eben noch rivalisierenden Retter gemeinsam und in Ruhe der Betrachtung und Aufarbeitung der überstandenen Situation widmen. Gerade nach suboptimal gelaufenen Rettungen bedarf es eines großen Maßes an Fingerspitzengefühl, um keinen der an der Rettung Beteiligten zu verletzen oder zu demotivieren.
Es ist in dieser Phase wichtig, den Rettenden aufzuzeigen, dass sie im Ernstfall handlungsfähig und auf viele Situationen vorbereitet sind. Jeder Teilnehmende sollte mit einem guten Gefühl aus der gestellten Rettungssituation herausgehen, egal wie gut sie gelaufen ist. Es gilt durch die dargestellte Situation aufgekommene Erinnerungen zu besprechen und gleichfalls zu bearbeiten. Nur so ist ein effektives Lernen möglich.
Im Bereich der Kajakausbildung ist mir bisher zum Glück keine brisante Rettungssituation untergekommen. Hier kann ich mich lediglich zur Wahrnehmung der unterschiedlichen Bedürfnisse von verschiedenen Personen äußern.
Die schwierige Aufgabe eines Kursleiters besteht darin, jeden einzelnen Teilnehmer und dessen Bedürfnisse wahrzunehmen und nach Möglichkeit zu befriedigen. Das kann gerade in herausfordernden Situationen schwierig sein.
Mir ist es einmal passiert, dass ich aufgrund eines sehr ängstlichen Kursteilnehmers und der damit verbundenen Anspannung nicht mitbekommen habe, dass einer anderen Kursteilnehmerin sehr kalt war. Sie fror so stark, dass ihre Handlungsfähigkeit eingeschränkt war. Erst eine Pause am Ufer, zusätzliche Kleidung und viel Bewegung konnten die Situation entspannen. Aus solchen und ähnlichen Gründen können sich Abwärtsspiralen entwickeln, die Situationen zunehmend schwieriger gestalten.
7. Fazit
Um eine Vorstellung zu haben wie einzelne Personen in Rettungssituationen agieren gilt es, eine Einschätzung ihrer Persönlichkeit zu erlangen. Darüber hinaus ist es leichter mit bekannten Situationen umzugehen, weshalb Menschen mit mehr Erfahrung in Rettungssituationen wahrscheinlich gelassener reagieren und sicherer agieren werden. Nicht zuletzt entscheidet die Zusammensetzung der Gruppe über den jeweiligen selbst zugewiesenen Platz und das damit verbundene Verhalten jeden Gruppenmitgliedes.
Je besser ein Gruppenmitglied geschult ist, umso sicherer wird es sich verhalten und die Situation meistern und im Anschluss verarbeiten. Je vertrauter die Gruppenmitglieder sind, desto unbefangener und sicherer werden sie interagieren.
Gute Ausbildung und der Erfahrungsschatz der einzelnen Gruppenmitglieder und Interaktion in der Gruppe steigern die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Rettung.
Es gilt jede Rettung, gleich ob real oder gestellt, im Anschluss gebührend aufzuarbeiten, um Erkenntnisse nutzbar zu machen und negative Erinnerungen zu verarbeiten. Jede erlebte Rettungssituation trägt zum Erfahrungsschatz der Einzelnen bei und lässt Angstgefühle und Hemmungen schwinden.
Der Erfolg einer Rettung kann neben den Voraussetzungen der Einzelnen stark durch die Vorbereitung in der Gruppe beeinflusst werden. Hierbei hat die Vorbesprechung eines möglichen Rettungsszenarios eine große Bedeutung. Rollenverteilung, abgesprochene Kommunikationsformen (zum Beispiel Handzeichen) und das Wissen über den Kenntnisstand und die Fertigkeiten der anderen Gruppenmitglieder können hier über Erfolg oder Misserfolg einer Rettung entscheiden.
8. Erkenntnisse aus unseren Übungen während der Trainerausbildung
Um die in der vorliegenden Arbeit genannten sozialen Aspekte bei der Gruppenarbeit und die in der Gruppe ablaufenden Prozesse auf ihre Wirksamkeit in der Praxis zu überprüfen, haben wir am zweiten Kurstag drei exemplarische Rettungsszenarien durchgeführt.
Dabei sind M. und S. vorausgefahren und haben mit ihren Booten und der Rettungspuppe „Kevin-Schackeline“ Szenarien für uns als Teilnehmer einer Kajakgruppe (und dementsprechend als Rettungsteam) vorbereitet. Die Szenarien waren uns vorher nicht bekannt, so dass wir im Lauf der Befahrung mit einer Situation konfrontiert wurden.
Die Ergebnisse der jeweiligen Rettung haben wir vor Ort anhand einer vorher erstellten Matrix hinsichtlich der Sicherheit für die Beteiligten, der Kommunikation zwischen den Beteiligten, der Zielführung der Aktion und der damit verbundenen Effektivität ausgewertet. Für jeden Aspekt gab es maximal 5 Punkte, sofern dieser optimal lief. Die minimale Punktzahl war ein Punkt bei schwacher Leistung.
Das erste Szenario sollte ausdrücklich ohne vorherige Absprache bezüglich persönlicher Kompetenzen, Erfahrungen und Handlungsvorlieben durchgeführt werden. Für das zweite Szenario haben wir einen Gruppenführer zur Koordination der Rettung benannt und für das dritte Szenario haben wir uns ausdrücklich eine kurze Besprechungszeit vor der Rettung eingeplant.
Die Ergebnisse der Rettungsbesprechungen anhand der vorher erstellten Matrizen:
Aus dieser Auswertung ergibt sich ein leichter Vorteil für die gemeinsame Besprechung mit Zeit vor der Rettung unter einem Gruppenführer. Die Rettung ohne Absprache hat erwartungsgemäß nicht optimal funktioniert. Es ist zu erkennen, dass vor allem in den Bereichen Kommunikation, Zielführung und Effektivität signifikant bessere Ergebnisse erzielt wurden. Dies resultierte vor allem aus einer besseren Aufgabenverteilung und Absprache.
Dabei ist zu erwähnen, dass beim ersten Rettungsszenario die verletzte Person flussaufwärts vom verklemmten Boot aufzufinden war, was uns gedanklich zusätzliche Probleme bereitet hat und daher zu schlechten Noten in Zielführung und Effektivität beigetragen hat.
Dieser Umstand führt zur Empfehlung, schon auf dem Weg zu einem sichtbaren Boot ohne Fahrer die Ufer und Felsen abzusuchen. Je nach Fluss und Bootsaufkommen sollte mit einem Pfiff auf ein Boot ohne Fahrer aufmerksam gemacht werden. Bei touristisch stark frequentierten Flüssen wie Soca oder Salza ist dieses Vorgehen in der Hochsaison wahrscheinlich übertrieben. Im Fall des Auffindens einer bewusstlosen Person bietet sich auf unebenem Untergrund das umgedrehte Boot als Unterlage an (z.B. zur Reanimation).
9. Quellenverzeichnis
- Abenteuerschule Ahrntal: http://www.abenteuerschule.it/dt-modell.htm, abgerufen am 15.06.2019
- Bergmann, Gero: „Allgemeine Aspekte der Gruppenpsychologie“, 138. Sitzung der Humboldgesellschaft am 08.04.2002
- Blog Chaoswiesel, motiviert studiert: „5 Gründe, warum Gruppenarbeit an der Uni scheitert“; https://motiviert-studiert.de/gruppenarbeit-in-der-uni/, abgerufen am 15.06.2019
- Klein, Irene: „Gruppen leiten ohne Angst“, 14. Auflage 2014, Auer Verlag, Donauwörth
- Payer, Margarete: „Kulturen von Arbeit und Kapital. Teil 1: Betriebs- und Unternehmenskulturen. 3. Auf Gruppenebene. 1. Gruppenverhalten. Fassung vom 2006-06- 08. URL: http://www.payer.de/arbeitkapital/arbeitkapital01301.htm
- Wikipedia: Soziale Gruppe; https://de.wikipedia.org/wiki/soziale_Gruppe, abgerufen am 15.06.2019
Text: Ingo Krüger | Fotos: Intimidator Rapid, Passer, Moos, Südtirol, Copyright: Martin Frick
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